Dienstag, 19. Juli 2016

Sonnenuhren bei Nacht

Mit freundlicher Genehmigung durch Rittiner&Gomez, Spiez, CH

Er hatte sie aus den Augen verloren. Die Straße hinauf am Stadtpark vorüber lief Ratur, schaute in jede Seitengasse, jeden Hauseingang – nichts. Bange zehn Minuten verstrichen. Weit konnte sie nicht sein. Also zurück. Ob sie in den Stadtpark hinein …? Das Licht der Straße reichte nicht weit unter den alten Baumbestand, reichte den Weg mit den hellen Kieseln hinauf bis zu einem gepflasterten, im Halbrund zum Park hin mit Rhododendren abgeschlossenen Platz mit einer großen Sonnenuhr darauf und ein paar Bänken. Auf einer kauerte sie. Das Scheinwerferlicht der passierenden Autos hob ihren Schemen für Augenblicke aus dem Dunkel, grau, und ließ ihn zurückfallen. Ängstlich schaute sie Ratur an, der sich ihr behutsam näherte.

Guten Abend!

Sie nickte, scheu, noch immer die Schultern hochgezogen und sich die Oberarme reibend.

Ihnen ist kalt, nicht wahr?

Wieder nickte sie, die Augen geschlossen und im nächsten Augenblick wieder groß auf Ratur gerichtet.

Mir ist auch kalt. Darf ich mich zu Ihnen setzen?

Wieder nickte sie und rückte ein wenig zum Rand der Bank hin. Ratur setzte sich zu ihr, rollte die Decke aus und legte sie ihr um die Schultern:

So wird es gleich besser.

Sie zog die Decke um ihren Leib, nickte ein zaghaftes Lächeln. Die warme Decke tat das ihre und Ratur bemerkte, wie die Unruhe der Frau im blauen Kleid sich legte. Da saßen sie nun. Das Wolkenmeer lichtete sich und gab den Blick frei auf einen vollen Mond. Der stand hoch über den Buchen ringsum, in deren Laub der Nachtwind sich fing in verhaltenem Anlanden und Weichen. Kommen und Gehen leises Rascheln. Ratur hörte Schneckenhäuschen rollen. Zog die Kirschpralinen aus dem Rucksack, wickelte eine aus, schob sie sich in den Mund und bot seiner Nachbarin eine weitere an, die sie gerne annahm. Noch eine. Und noch eine. Sie genoss es.

Da saßen sie also.

Der Zeiger der Sonnenuhr warf einen kaum wahrnehmbaren Schatten. Ratur schmunzelte und zeigte:

Die geht nach dem Mond!

Ich … auch.

Die warme Decke tat ihr gut, das Kirschwasser der Pralinen ebenso. Sie entspannte sich, und doch, wieder strahlte ihre Miene jene Verlorenheit aus, auf eine eigentümliche Art, für die Ratur keine Erklärung wusste.

Hunger?

Ein Ja, ein dünnes, eines von der Art, die auf Mondlicht balancieren kann und eher Vielleicht ist als Entschluss. Das Baguette war rasch geteilt, der Rote entkorkt, der Käse in mundgerechte Häppchen geteilt und so saßen sie und schauten dem Schatten der Sonnenuhr zu, wie der mit den Scheinwerfern der vorüberfahrenden Autos vor- und zurücksprang, verging und wieder erstand. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter:


Bleibst du bei mir?

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