Freitag, 12. Mai 2017

Joutsen!

Was weiß ich schon von Finnland?

Nun gut, ans Ohr halte ich mir das Produkt einer finnischen Firma, es könnte sich der Firma und dem Namen nach auch um Klopapier oder einen Fahrradreifen handeln.
Doch dann würden zumindest längere Unterhaltungen zu Recht die besorgten Blicke meiner Umgebung auf sich ziehen.

Auch warte ich seit der Einführung des Euro darauf, dass mir ein Paar silberner Schwäne in die Finger kommt. Diese Münze allein bringt diesem Land im Kaltikum schon Sympathiepunkte ein. Da ist zum einen die Perspektive. Nicht von oben herab, nicht von unten über Kimme und Korn anvisiert – nein, auf Augenhöhe kommen sie daher und ich spüre: Die Finnen bringen damit nicht eine profane Vorliebe für Geflügelbraten zum Ausdruck. Nein – das ist ein Blick über die Schulter, der den Betrachter selbst in die kühle Nordluft hebt! Den Finnen wird der pfeifende Flügelschlag der Schwäne vorgeschwebt haben, der unbeirrbare Zug in Brut- und Winterquartiere. Das Timbre ihrer Rufe, die sowohl aus kristallklarem Himmelblau wie durch zähe Nebelnächte vom Ohr direkt in den Bauch finden.

Ob sich in dieser Wahl jener Hang zur Schwermut ausdrückt, den man den Finnen nachsagt? Wer denkt schon beim Anblick fliegender Schwäne an Finnland? Doch wem steigt nicht deren wildes, verlorenes Rufen in den Sinn beim Anblick des finnischen Euros?
Nach wem sollten sie rufen, wenn nicht nach ihren Gefährten, Suche, Zuspruch, Bestätigung. Und Geschichten werden sie sich erzählen, die finnischen Schwäne, dass die Nacht nicht so schwarz, der Weg nicht so weit und die Luft nicht so kalt scheint. Vielleicht erzählen sie sich von Mauri Kunnas und dem Korvatunturi.

Mauri Kunnas – er brachte Finnland in meine Familie! Und wenn es auch nur ein kleines Stückchen war, so reichte es doch für ein weißes Band der Sympathie.
„Joulupukki“, so der finnische Originaltitel, hielt als „Wo der Weihnachtsmann wohnt“ alle Jahre wieder mit Beginn der Adventszeit, Einzug auf das Kuschelsofa meiner Kinder und mir - mit seinen detailreichen, liebevoll gezeichneten Wichteln und dem süßen Haferbrei von Frau Weihnachtsmann. Versetzte unser abendliches Wohnzimmer mitsamt seiner drei Passagiere auf einen unbekannten Inselberg in den hohen Norden Lapplands, mitten in das Dorf des Weihnachtsmanns. Korvatunturi heißt dieser märchenhafte Ort, der meinen Kindern große, staunende Augen und offene Münder bescherte. Der sie empfänglich machte für den Zauber der Weihnachtszeit, wenn Papa Zeit hatte, das Teelicht auf dem Tisch Licht und Schatten in den Raum flackerte und der Duft von süßem Haferbrei erfüllte den Raum. Ja, der süße Haferbrei von Frau Weihnachtsmann, den sie den Wichteln zum Frühstück zubereitet – von uns Wichtelbrei genannt und während der allabendlichen Vorlesestunde zelebriert wie in unserer Phantasie andernorts Teezeremonie oder andere exotische Rituale. Ein kleines, nur in der Phantasie existierendes Dorf am Korvatunturi, in internetloser Zeit ein Punkt im roten Autoatlas an der finnisch-russischen Grenze, kopiert und ins Buch geklebt, wurde für uns drei damals wie heute das wärmste, zauberhafteste Stückchen Finnland überhaupt. Gerade eben antwortet mein Sohn, über die Schulter gefragt, was ihm spontan zu Finnland einfalle, mit der Reihe Mika Häkkinen, Nokia (da ist er sich nicht sicher), dem blauen Kreuz auf weißem Grund und dass die Sprache seltsam klingt. Schließlich ist er inzwischen zweiundzwanzig. Auf die Frage, wo der Weihnachtsmann wohnt, antwortet er jedoch, wie aus der Pistole geschossen: Korvatunturi, irgendwo in Lappland, ein Berg… Na, wer sagt’s denn, Mauri Kunnas!

Er wird dieses Buch seinen Kindern vorlesen, später, wenn es uns beide schon nicht mehr gibt.
Schließlich stelle ich mir Finnland als ein Land mit einer stillen, unauslöschlichen Grenze vor, einer Grenze, die weniger Demarkationslinie ist als der fein gewebte Übergang von einer Wirklichkeit in die andere, vom gewohnten Wechsel der Tageszeiten hin zur langen Polarnacht und ihrem ebenso langatmigen Bruder. Oder sind die beiden gar nicht Geschwister, sondern ein altes Ehepaar?
Ich frage mich, ob diese transluzente Grenze um den Nördlichen Polarkreis die Menschen im Norden Finnlands von denen des Südens unterscheidet. Schließlich werden unser Denken und Fühlen, unser Realitätsbegriff und unser Sehnen durch die Wirklichkeit um uns geprägt. Und schon bin ich wieder bei den Schwänen. Sicherlich sind es Singschwäne. Wer immer entschied, dass sie den finnischen Euro zieren sollen, er wählte gefiederte, ausdauernde Boten aus, die beständig und ohne Hast zwischen diesen Welten pendeln, Wandel wie Beständigkeit zugleich im Sommer an den finnischen und im Winter auch an den deutschen Himmel zeichnen.

Allein der Schlag ihrer Schwingen lässt aufhorchen, schneidet die Luft zu Klangraum. Ob ich ein wenig finnische Seele spüre, wenn ein Schwanenpaar über mich hinweg pfeift? Treue? Gleiten und Watscheln – zwei Seelen in einer Brust, vollkommen nur in den beiden Elementen Wasser und Luft, die anderen mit Beschwernis und Herdfeuer aufwartend? Zwei Seelen in einer Brust, das wird eng, das seufzt, da sehnt sich immer eine von beiden nach Raum und Heimat. Die Finnen sollen schwermütig sein? Was wundert es bei einem Volk, das sich in fliegenden Singschwänen über einer Seenlandschaft wiedererkennt …

Das also weiß ich von Finnland. Oder auch nicht.

Ludwig Janssen © 30.8.2006

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